Die Mobilität der Zukunft als Streaming-Dienst
15. April 2025
Mobilität neu denken, Mobilität ganzheitlich denken, Mobilität als System denken: Genau das sind laut Prof. Dr. Johannes Weyer die entscheidenden Punkte, um unsere Mobilität nachhaltig und individuell komfortabel zu gestalten. Der Mobilitätssoziologe und Inhaber der Seniorprofessur „Nachhaltige Mobilität“ an der TU Dortmund hat nicht nur eine klare Vorstellung unserer zukünftigen Verkehrswelt, sondern weiß auch, an welchen Stellschrauben gedreht werden muss, um die Menschen vom Umstieg auf klimafreundliche Verkehrsangebote zu überzeugen. Wie diese aussehen, erklärt er im Interview.
Wie sind Sie heute zur Arbeit gekommen?
Prof. Dr. Johannes Weyer: Mit dem Auto. Der Campus der TU ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln leider immer noch nicht optimal zu erreichen. Mein Büro liegt eigentlich in Dortmund Eving. Dort fährt alle fünf Minuten eine Bahn. Dorthin kommen die meisten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit öffentlichen Verkehrsmitteln.
Welche Aufgaben stehen hinter Ihrer Seniorprofessur Nachhaltige Mobilität?
Weyer: Meine Aufgabe ist es seit gut zweieinhalb Jahren, Forschungsprojekte im Bereich nachhaltiger Mobilität durchzuführen. Die Frage ist, wie erreichen wir bei den Menschen Verhaltensveränderungen hin zu Mobilitätsformen, die weniger klimaschädlich sind, also beispielsweise zum Umstieg vom Auto auf öffentliche Verkehrsmittel oder das Rad. Oder zur Nutzung komplett neuer Mobilitätssysteme, wie wir sie in einem Projekt entwickeln.

Prof. Dr. Johannes Weyer legte seine Habilitation „Soziologie, insb. Wissenschafts- und Techniksoziologie“ 1991 an der Universität Bielefeld ab. Seit 2002 arbeitet er an der TU Dortmund. Dort hatte er 20 Jahre die Professur für Techniksoziologie an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät inne. Seit 2022 ist der 68-Jährige zum Abschluss seiner wissenschaftlichen Laufbahn als Seniorprofessor für Nachhaltige Mobilität tätig.
Was verstehen Sie unter innovativen Mobilitätssystemen?
Weyer: Innovativ sind solche, die bestehende Systeme intelligent nutzen und intelligent verknüpfen. Statt mit meinem Auto vom Startpunkt bis zum Ziel zu fahren, von zu Hause zur Arbeit etwa, sollte ich die Möglichkeit haben, mit dem Rad zum Bahnhof zu fahren, das Rad dort sicher zu parken und mit dem Zug weiterzufahren. Das ist ein intelligentes Mobilitätssystem, das Zukunft hat und das eine Alternative bietet. Solche intelligenten Verknüpfungen müssen wir deutlich mehr schaffen.
Finden wir solche Verknüpfungen an der TU Dortmund?
Weyer: Ja, es gibt schon einiges, zum Beispiel Radabstell-Stationen. Eine haben wir im Rahmen eines vergangenen Projektes errichtet. Das sind wichtige Anfänge – aber wir können noch wesentlich mehr tun.

In welchen Bereichen liegt das größte Klima-Einsparpotenzial?
Weyer: Das größte Einsparpotenzial liegt im Straßenverkehr und da wiederum im Segment des Pkw-Verkehrs. Das glaubt man manchmal nicht, wenn man die vielen Lkws auf den Straßen sieht. Aber den Hauptanteil der Emissionen stößt der Pkw-Verkehr aus. Und dabei seit einiger Zeit auch nicht mehr der beruflich veranlasste Verkehr, sondern die Freizeitmobilität. Ich meine, Hand aufs Herz: Ich kenne es von mir selbst. Egal, ob Besuche bei Verwandten oder Konzertbesuche, solche Wege macht man doch meistens mit dem Auto – und wenn das mit dem Verbrenner geschieht, ist das nicht das Allerbeste.
Sie sprechen es an. Das Auto ist omnipräsent in unserer Gesellschaft. Was macht das soziologisch betrachtet mit uns als Gesellschaft?
Weyer: Das Auto ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Mobilität, der unsere Mobilität auch schon lange geprägt hat. Ich bin Jahrgang 1956. Ich bin mit dem Auto groß geworden. Mein Vater war ganz stolz auf seinen ersten VW Käfer. Wir sind eine automobile Gesellschaft und haben uns auch angewöhnt, dass bestimmte Mobilitätspraktiken normal sind. Es ist normal, dass wir morgens hier und abends da sind. Das gehört zu unserem Lebensstil dazu und es wird unglaublich schwierig, uns das abzugewöhnen. Wobei von Abgewöhnung auch gar nicht die Rede sein muss. Wir wollen mobil sein, aber eben nachhaltig mobil, klimaschonend mobil und einfach mobil.
Also können wir es uns eigentlich nicht mehr leisten, dass jeder individuell über seine Mobilität nachdenkt?
Weyer: Es wäre gut, wenn wir alternative Angebote für diejenigen schaffen, die sich ärgern, schon wieder im Auto zu sitzen, obwohl sie das eigentlich gar nicht wollen. Ich nenne sie die genervten Auto-Zwangsnutzer, die eigentlich gern Rad oder ÖPNV fahren würden, aber sagen, das geht leider gerade nicht, weil der Zug nicht kommt oder die Radwege nichts taugen. Diese Menschen müssen eine Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten haben, dann könnten wir eine ganze Menge erreichen. Es gibt einige Menschen, die wir nie aus dem Auto holen werden. Das sind nach unseren Daten 15 Prozent. Die sollen es weitermachen. Aber den anderen möchte ich gern Angebote unterbreiten.
Es wäre gut, wenn wir alternative Angebote für diejenigen schaffen, die sich ärgern, schon wieder im Auto zu sitzen, obwohl sie das eigentlich gar nicht wollen.
Welche Angebote bergen denn Potenzial für Veränderung? Und in welchen Regionen in NRW wird Mobilität für die Menschen bereits anders gedacht?
Weyer: Ich glaube, in ganz vielen Regionen ist das der Fall. Es gibt zum Beispiel mittlerweile rund 30 Pilotprojekte für On-Demand-Verkehre in NRW. Das sind kleine Taxis, Shuttles, Kleinbusse, die nur dann verkehren, wenn sie benötigt werden. Es macht im ländlichen Raum auch keinen Sinn, dass da zweimal am Tag ein Bus fährt, in dem lediglich zwei Leute sitzen, weil dieses Angebot als unbefriedigend empfunden wird. Der Bus muss dann fahren, wenn die Menschen ihn benötigen, On-Demand, also bei Bedarf. Da gibt es in NRW etliche Projekte. Ein weiterer Ansatz ist, dies mit dem autonomen Fahren zu verbinden. Wir machen das aktuell z. B. in Paderborn mit dem Projekt NeMo.bil, in dem wir versuchen, autonome Mobilitätssysteme aufs platte Land zu bekommen.
Wie weit sind wir in Deutschland allgemein beim Thema „Autonomes Fahren“?
Weyer: Allen Unkenrufen zum Trotz, recht weit. Wir werden dieses, spätestens nächstes Jahr den Durchbruch erleben. Das sage ich als Soziologe, nicht in der Lage wäre, so etwas zu bauen (lacht), aber auf Fachkonferenzen regelmäßig in Gesprächen mit Experten ist. Das Projekt MOIA in Hamburg läuft bereits, also autonome Taxis, die dort fahren. Das wird in absehbarer Zeit für geschlossene Kundenkreise freigegeben und nächstes Jahr kann jeder in Hamburg autonom Taxi fahren. Ich sag es mal so: Google hat die Nase vorn, aber nicht mehr lang. Die Deutschen ziehen nach. Da tut sich wirklich viel. Deswegen wage ich die Prognose, dass wir den Durchbruch beim autonomen Fahren nächstes Jahr erleben.
Und das wird gesellschaftlich auch anerkannt werden?
Weyer: Wir wissen, und genau das ist ja jetzt die Domäne der Soziologie, dass die Technik des autonomen Fahrens eine hohe Akzeptanz hat. Die Angst davor, dass man von einem autonomen Auto überfahren wird, ist nicht besonders groß. Das Sicherheitsniveau in diesem Bereich ist sehr hoch. Ein großes Problem ist dagegen das Fehlen des Fahrers oder der Fahrerin als Interaktionspartner, vor allem, wenn sie als junge Frau nachts um 22 Uhr in ein Auto steigen und dort sitzen schon drei Fremde. Die soziale Akzeptanz der Mitreisenden ist also eher das Problem. Aber auch dafür gibt es Lösungen, zum Beispiel die Möglichkeit von Einzelbuchungen gegen einen geringen Aufpreis. Tagsüber brauchen wir Gruppenfahrten, um genügend Kapazitäten zu haben. Nachts können wir uns Einzelfahrten aber leisten. Auf jeden Fall ist die soziale Akzeptanz der Mitreisenden eher das Problem als die Akzeptanz der Technik.
Faktoren mit erstaunlichen Effekten
Welche Erkenntnisse kann die Mobilitätssoziologie dabei liefern?
Weyer: Wir betrachten die sozialen Dimensionen von Mobilität, also das Mobilitätsverhalten. Wir können relativ gut erklären, warum Sie und ich heute im Auto gesessen haben und warum Sie und ich morgen vielleicht Fahrrad fahren werden. Dazu haben wir ein Modell entwickelt, mit dem wir Mobilitätsverhalten relativ gut erklären und auch verstehen können, warum die Menschen bestimmte Entscheidungen treffen. Und wenn man verstanden hat, welche Faktoren uns dazu bringen, Verkehrsmittel A oder B zu wählen, dann kann ich mit den Faktoren spielen, in Experimenten oder Simulationen. Was passiert zum Beispiel, wenn ich die Radwege komfortabler mache? Was passiert, wenn ich Parkplätze für Autos in der Innenstadt abschaffe? Was passiert, wenn ich ein Deutschlandticket einführe? Wir sehen, dass einzelne Faktoren zum Teil erstaunliche Effekte haben. Und wir wissen, an welchen Stellschrauben man drehen kann, um Mobilität zu beeinflussen und vielleicht auch zu verändern.
An welchen Stellschrauben sollte Ihrer Meinung nach denn gedreht werden?
Wie wir aus unseren Experimenten wissen, funktionieren etliche Stellschrauben recht gut. So haben beispielsweise innerstädtische Tempolimits oder die Einführung einer City-Maut positive Effekte für das Klima. Allerdings sinkt auch die soziale Akzeptanz, die wir immer mit messen. Maßnahmen, die den Radverkehr fördern, ohne die Autofahrer zu verprellen, stoßen hingegen auf eine hohe Akzeptanz und sind daher am besten geeignet, die Mobilitätswende voranzubringen und so die Klimaziele zu erreichen.
"Das Deutschlandticket hat eine Menge bewirkt"
Welche Rolle spielt der ÖPNV dabei? Was muss sich aus Sicht der Soziologie dort verbessern, damit die Menschen von der Straße auf die Schiene umsteigen möchten?
Weyer: Da ist das alte Problem: der Komfort. Der ÖPNV wird als wenig komfortabel und als wenig schnell empfunden – und als zu teuer. Jetzt wissen wir alle, dass wir uns gerade bei den Kosten den Pkw immer schön rechnen. Aber das ist egal. Ich als Soziologe muss davon ausgehen, wie die Menschen denken. Und die Menschen denken, der ÖPNV ist teurer als das Nutzen eines Pkw. Deswegen hat das Deutschlandticket eine Menge bewirkt. Es ist einfacher geworden, es ist komfortabler. Nicht beim Reisen, aber beim Buchungsprozess. Und der ÖPNV muss flexibler werden, sprich, verknüpft werden mit anderen Verkehrsmitteln. Wir müssen das Problem der ersten und letzten Meile lösen. Denn die Verbindungen sind ja eigentlich nicht schlecht. Ich wohne aber nicht unbedingt am Bahnhof. Ich muss da erstmal hin. Deswegen ist die Verknüpfung wichtig.
Wie lange wird das Auto die Vormachtstellung auf der Straße noch halten?
Weyer: Ich glaube, das Auto wird noch lange Teil künftiger Mobilitätssysteme sein und bleiben. Ich bin großer Anhänger der Schiene, aber da bekommen wir nicht alles hin. Deswegen wird das Auto weiter eine Rolle spielen, aber als Teil vernetzter, integrierter Systeme. Und wir werden auch weniger die Notwendigkeit sehen, Autos besitzen zu müssen. Ich stelle mir eine Mobilität der Zukunft so vor, dass wir gar nicht mehr darüber nachdenken müssen, ob wir ein Auto haben. Ich stelle es mir als Streaming-Dienst vor. Haben Sie noch CDs oder Schallplatten?
Tatsächlich beides.
Weyer: Bei mir ist alles im Keller. Ich nutze in diesem Bereich nur noch Streaming-Dienste und sage ‚Hey Siri (oder Alexa), spiel mir das Album von Taylor Swift.' Und dann kommt die Musik. Genau so stelle ich mir die Mobilität der Zukunft vor. Ich muss mich nicht mehr darum kümmern, ob es eine Haltestelle gibt oder ich ein Auto habe. Ich sage einfach: ‚Hey Siri, bring mich nach Dortmund.' Und zehn Minuten später steht irgendein Fahrzeug vor der Tür. Also Mobilität als Service, bei dem ich nicht mehr über das Wo und Wie nachdenken muss. Das ist meine Vision. Und ich denke, in spätestens zehn Jahren werden wir die haben.
Unsere Automobil-Industrie muss in Mobilitätsystemen denken – und nicht in Autos.
Also ist der Punkt der Bequemlichkeit eigentlich der Wichtigste, um die Menschen zum Umsteigen zu bewegen?
Weyer: Ja! Die Bequemlichkeit spielt eine große Rolle. Und momentan ist das Auto immer noch das bequemste Verkehrsmittel, selbst wenn man im Stau steht. Dann höre ich halt Musik oder führe ein Telefonat. In Zukunft möchte ich nur noch sagen müssen, dass ich nach Hause möchte – und es ist dann Aufgabe der Mobilitätsanbieter zu überlegen, ob sie mir ein Taxi, ein autonomes Shuttle oder einen Linienbus schicken. Ich will mich nicht mehr drum kümmern müssen. In Finnland sind solche Modelle teilweise schon realisiert. Und dann relativiert sich die Rolle des Autos automatisch. Natürlich kann es dann immer noch sein, dass ich in ein Carsharing-Fahrzeug steigen und zum Bahnhof fahren soll. Aber ich muss mich nicht um einen Parkplatz kümmern.
Wie ist Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern aufgestellt?
Weyer: Gar nicht so schlecht. Wir reden uns immer schlecht. Wir schauen immer nach Kaliforniern oder China. Ich bin aber optimistisch, dass wir unsere Ideen hier gemeinsam entwickeln und auf die Straße bringen können. Ich glaube, dass innovative Mobilitätsprojekte eine gute Chance bieten, unsere Industrie nach vorne zu bringen. Ich glaube nicht, dass unsere Automobil-Industrie vor dem Ende steht. Aber sie muss sich transformieren und in Mobilitätssystemen denken – und nicht in Autos.